Raumschiff der Musik - Quality Magazine
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Raumschiff der Musik

Eine Wolke aus Licht entfaltet sich inmitten eines riesigen Walfischbauchs. Wie Rippen sind die Logen in die Wände des großen Zuschauersaales eingelassen. Wenn die Ouvertüre beginnt, verwandelt sich der Raum in einen Körper, der mit den Klängen des Orchesters zu atmen scheint. Vorhang auf im Teatro Regio in Turin, dem ungewöhnlichsten Opernhaus Italiens – erbaut von Architektenlegende Carlo Mollino.

Treppen im Foyer des Teatro Regio Torino; Foto: Ramella&Giannese

Treppen im Foyer des Teatro Regio Torino; Foto: Ramella&Giannese

Wenn es um Kurven ging, war Carlo Mollino (1905/1973) in seinem Element. Der Turiner Architekt, Designer, Rennfahrer, Aktfotograf und Lebemann pflegte längst nicht nur seine Möbelentwürfe weiblichen Rundungen nachzuempfinden. Auch seine Gebäude waren von asketischer Strenge weit entfernt und sorgten mit dynamischem Kurvenschlag für sinnliche Raumerlebnisse. Mollino war zweifelsohne ein überzeugter Modernist: Aber er war ebenso ein Virtuose der Form, der Gebäude in Bühnen und Menschen in Akteure verwandeln konnte. Seinen Gestaltungsanspruch führte er mit dem Teatro Regio, dem 1973 eröffneten Opernhaus von Turin, zur Vollendung. Anders als bei heutigen Opernbauten, die wirkungsvoll wie Skulpturen inmitten der Stadtlandschaft platziert werden, steht das Teatro Reggio in der zweiten Reihe. Von der Piazza Castello erstreckt sich ein Seitenarm des Turiner Schlosses am Palazzo Madama und seinem imposanten Treppenhaus vorbei. Folgt der Besucher diesem Arm, vollzieht das Bauwerk schließlich eine Rechtskurve, wo sich – allein durch rote Fahnen markiert – der Eingang des ungewöhnlichsten Opernhauses von ganz Italien befindet. Dass der Neubau hinter der Schlossfassade versteckt wurde, ist nicht einer Aversion der Stadtväter gegenüber der Moderne zu verdanken. Die zugegebenermaßen etwas unscheinbare Lage hat einen historischen Grund.

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Schon einmal stand an selbiger Stelle ein Opernhaus. Stattliche 2.500 Zuschauer fasste das erste Teatro Regio, das König Emanuel III. von Savoyen 1740 bauen ließ. Gekrönt wurde der hufeisenförmige Saal mit fünf Rängen von einem Deckengemälde von Bernardino Galliari. Seine Blütezeit erlebte das Opernhaus um 1900, als Klassiker wie Puccinis „La Bohème“ (1896) und „Manon Lescaut“ (1893) ihre Premieren feierten und das Orchester unter der Leitung des Dirigenten Arturo Toscanini Weltruhm erlangte. Viel geholfen hat dieser Ruf allerdings nicht. Als ein schwerer Brand das Teatro Regio 1936 völlig zerstörte, geschah für mehr als drei Dekaden nichts.

Die Bühne des Teatro Regio ist nach der Pariser Operá Bastille die zweitgrößte in Europa. Foto: Ramella & Giannese

Die Bühne des Teatro Regio ist nach der Pariser Operá Bastille die zweitgrößte in Europa. Foto: Ramella & Giannese

Die Stadt Turin hatte zwar 1937 einen Wettbewerb ausgeschrieben, den das Architektenduo Aldo Morbelli und Robaldo Morozzo gewinnen konnte. Allerdings stand ihr Entwurf unter keinem guten Stern. Zuerst machte der Zweite Weltkrieg den Neubauplänen einen Strich durch die Rechnung. In den fünfziger Jahren hatten andere Projekte Vorrang. Auch wenn 1963 ein erster Spatenstich gesetzt wurde, kam nur wenige Monate später das endgültige Aus. Die Haushaltslage in Italien hatte zu radikalen Sparmaßnahmen geführt, sodass der Entwurf aus den dreißiger Jahren mit seinem pompösen Dekor nicht mehr zu finanzieren war. Aus architektonischer Sicht war die Entscheidung für Turin ein Glücksfall. Denn was die Stadt stattdessen erhalten sollte, war alles andere als ein schnödes Sparpaket. Per Direktauftrag hatte der Turiner Bürgermeister 1965 das Prestigeprojekt an Carlo Mollino und den Ingenieur Zavelani Rossi vergeben. Letzterer sollte sich vor allem um die technische Ausstattung sowie akustische Belange kümmern. Die Bauarbeiten begannen im September 1967 und wurden im Frühjahr 1973 – fast vier Jahrzehnte nach der Zerstörung des Teatro Regio – abgeschlossen.

Carlo Mollino, um 1950

Carlo Mollino, um 1950

Das Gebäude ist eine Mischung aus Raumschiff, Walfischbauch und Showbühne, das wie eine Zeitkapsel der sechziger Jahre in die Gegenwart transferiert wurde. Die 31 Logen sind wie Rippen in die Wände des großen Zuschauersaales eingelassen und verwandeln den Raum in einen Körper, der mit den Klängen der Orchesters zu atmen scheint. Für Mollino stand außer Frage, der Schlossarchitektur mit einer historisierenden Sprache zu begegnen. Der Grundriss des Zuschauerraums folgt keinem Hufeisen wie zu Zeiten der höfischen Barock, sondern erinnert an ein riesiges Ei. Die Sitzreihen im Parkett blicken geradewegs zur Bühne, während die mit Eero Saarinens „Tulip Chairs“ ausgestatteten Logen ein wenig Nachtclub-Atmosphäre in die heiligen Hallen der Musik bringen.

Teatro Regio, 1965-73 Foto: Cavalli

Teatro Regio, 1965-73
Foto: Cavalli

Dem barocken Vorgängerbau näherte sich Mollino stattdessen auf anderem Wege. Das Gebäude, dessen Draufsicht der Silhouette einer liegenden Frau gleicht, ist zweigeteilt. Während die Foyers mit einer geschwungenen Glasfassade zum Außenraum geöffnet werden, wirkt die rückseitige Backsteinfassade verschlossen wie eine Auster. Auch sie ist keine plumpe Wand, sondern erinnert mit ihrem rautenförmigen Relief an die Fassade des barocken Palazzo Carignano in Turin. Im Foyer erzeugt eine prismatisch gefaltete Decke aus Sichtbeton einen wohltuenden Kontrast gegenüber den roten Teppichböden und den kannelierten Außenverkleidungen des Zuschauerraums. Die Formen scheinen zu fließen und ziehen die Besucher förmlich durch das Gebäude hindurch. Auch in den dynamisch-verschlungenen Rampen, Wegen und Details steckt eine Interpretation des barocken Ornaments. Schließlich hatten auch die überbordenden Schnörkel ihrerseits eine Aufgabe: Indem sie Wände, Decken und Möbel gleichermaßen überzogen, ließen sie die Dinge miteinander verschmelzen. Der Raum war keine Summe einzelner Objekte, sondern ein fließendes Kontinuum, ein Total Environment.

Wie Rippen sind die 31 Logen in den Korpus des großen Zuschauersaales eingelassen. Anstatt mit gewöhnlichen Theatersitzen wurden sie mit Eero Saarines "Tulip Chairs" bestuhlt. Foto: Viola Berlanda

Wie Rippen sind die 31 Logen in den Korpus des großen Zuschauersaales eingelassen. Anstatt mit gewöhnlichen Theatersitzen wurden sie mit Eero Saarines „Tulip Chairs“ bestuhlt. Foto: Viola Berlanda

Um den 1.600 Zuschauer fassenden Saal auch ohne zusätzliche Stützen umzusetzen, konzipierte Mollino mit dem Ingenieur Felice Bertone eine 32 Meter hohe Kuppel aus Beton. Auch wenn die hyperbolische Paraboloidschale beim Betreten des Opernhauses sowie von den umliegenden Straßen nicht ersichtlich ist, ragt sie dennoch deutlich über die Dächer der Stadt hinweg. Acht Etagen misst das Teatro Regio, von denen vier unterhalb der Erde liegen. Im Neubau befinden sich neben dem Zuschauerraum, der Bühne und den Foyers auch zwei getrennte Proberäume für das Orchester und den Chor. Ein Regiestudio dient für Proben, wenn die Bühne nicht zur Verfügung steht, während in den Kellergewölben ein weiteres Ballett-studio eingerichtet wurde. Auf der Rückseite des Opernhauses entstand mit dem Teatro Giacomo Puccini Piccolo Regio zudem ein reines Sprechtheater, das über 380 Sitzplätze verfügt.

Im Foyer erzeugt eine prismatisch gefaltete Decke aus Sichtbeton einen wohltuenden Kontrast gegenüber den roten Teppichböden und den kannelierten Außenverkleidungen des Zuschauerraums. Die Formen scheinen zu fließen und ziehen die Besucher förmlich durch das Gebäude hindurch.

Im Foyer erzeugt eine prismatisch gefaltete Decke aus Sichtbeton einen wohltuenden Kontrast gegenüber den roten Teppichböden und den kannelierten Außenverkleidungen des Zuschauerraums. Die Formen scheinen zu fließen und ziehen die Besucher förmlich durch das Gebäude hindurch.

Eine Bühne liefert das Teatro Regio aber längst nicht nur für die Musik. Es bietet ebenso den baulichen Rahmen, in dem sich ein anderer Meister der Moderne entfalten konnte: Gino Sarfatti, der Gründer des Leuchtenherstellers Arteluce. Die ideale Form einer Leuchte war für ihn die Kugel. Bereits mit dem Modell „237/1“ (1960) nahm Sarfatti eine Serie weiterer Leuchten vorweg, mit denen er die Foyers, die Bars sowie die gläserne Außenfassade des Turiner Opernhauses bestückte. Deren Bauweise blieb immer dieselbe, indem Kugeln aus Milchglas von schlanken Metallringen getragen wurden, während die Verkabelung auf der Rückseite unsichtbar blieb. Die Kugeln konnten einzeln oder in Dreiergruppen an den Wänden zum Einsatz kommen oder zu Clustern von acht bis 132 Exemplaren gruppiert werden. Diese werden wie Straßenlaternen von freistehenden Masten getragen oder hängen an ihren Kabeln von der Decke herab. Sarfattis Hauptwerk bildet jedoch zweifelsohne seine leuchtende „Wolke“, die im großen Saal über den Köpfen der Zuschauer hinweg schwebt. 1.762 dünne Aluminiumrohre ragen aus der Decke heraus, deren Enden mit jeweils einer Glühbirne bestück sind. Zusammen bringen sie 1.900 Plexiglasröhren zum Leuchten und erwecken den Eindruck, als hätte eine Armee von Glühwürmchen in einer Tropfsteinhöhle Rast eingelegt.

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Teatro Regio Torino; Foto: Ramella&Giannese

Wirklich genießen konnte Carlo Mollini die Raumwirkung jedoch kaum. Er verstarb im August 1973 – nur vier Monate nach der Eröffnung des fantastischen Opernhauses von Turin.

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