leiden schafft - Quality Magazine
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„Manche Maler machen aus der Sonne einen gelben Punkt. Andere machen aus einem gelben Punkt eine Sonne“, Pablo Picasso. Yayoi Kusama macht aus Punkten Kunst. Für Kenner sind die unendlichen Punktwelten der japanischen Künstlerin avantgardistische Meisterwerke. Für Laien sind sie Kunst mit Fun-Faktor. Für Marc Jacobs sind sie eine Inspiration.

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Ein Punkt unter Millionen von anderen Punkten“, so begreift Yayoi Kusama, eine der bedeutendsten japanischen Künstlerinnen der Nachkriegszeit, ihr Dasein in dieser Welt. So bescheiden sich das auch anhören mag, die multikreative 83-Jährige begnügt sich mit nichts weniger als der Unendlichkeit. Sie ist es, die Kusama fasziniert, sie immer wieder zu kreativen Höchstleistungen antreibt. Punkte. Kreise. Formen ohne Anfang und Ende. Die Avantgarde-Malerin, Pop-Art-Künstlerin, Bildhauerin, Straßenperformerin und Dichterin ist unermüdlich in ihrem Schaffen. Immer noch, trotz ihres Alters, das man ihr aber nicht ansieht. Irgendwie scheint Yayoi Kusama mit ihrer knallroten Perücke und ihren quietsch-fröhlichen Outfits, am liebsten rote Punkte auf weißem Untergrund (oder umgekehrt), alterslos zu sein. Betrachtet man Kusamas Werke, versteht man, warum sie sich selbst als „zwanghafte Künstlerin“ beschreibt.

Ihre Angst, "sich im Raum aufzulösen", verarbeitet Kusama im künstlerischen Prozess.

Ihre Angst, „sich im Raum aufzulösen“, verarbeitet Kusama im künstlerischen Prozess.

Es wäre nicht das erste Mal, dass Besessenheit herausragende Kunst hervorbringt. Im Falle von Kusama vereint sich die Obsession auf anmutige Weise mit rührender Unschuld. Ihre Werke haben eine Anziehungskraft, der man sich kaum entziehen kann. „Nackt“ ist ein Kusama Objekt, ob Leinwand, Skulptur, oder (Alltags-) Gegenstände, meist schnörkellos und schlicht, doch mit einem gepunkteten, getupften und geblümten Muster verziert, ändert sich sein Wesen auf magische Weise und vermittelt eine geradezu kindliche Verspieltheit. So lag es auch nahe, dass Kusama für eines ihrer Kunstwerke, der Installation „Obliteration Room“, Kinder als kreative Gestalter einspannte. In der Kinderabteilung der Gallery of Modern Art in Brisbane ließ die Japanerin die kleinen Künstler eine monochrom weiße Wohnung über zwei Wochen hinweg mit Tausenden bunter Punkte bekleben.

Obsession vereint sich auf anmutige Weise mit rührender Unschuld.

Obsession vereint sich auf anmutige Weise mit rührender Unschuld.

Künstlerische Arbeiten mit dominierenden Phallussymbolen sind für Kusama Kunst und Therapie zugleich.

Künstlerische Arbeiten mit dominierenden Phallussymbolen sind für Kusama Kunst und Therapie zugleich.

Die Obsession für Punkte begleitet Yayoi Kusama fast schon ihr ganzes Leben. Die 1929 in Matsumoto geborene Japanerin wurde von ihrer Mutter traditionell erzogen. Ein mehr als angespanntes Mutter-Tochter-Verhältnis war die Folge. Die kleine, fantasievolle Kusama litt unter der Strenge. Ob sie deswegen schon als Kind Halluzinationen ausbildete, ist nicht gewiss. Fakt ist jedoch, dass diese Wahnvorstellungen der Beginn ihrer Punkte-Besessenheit waren. „Ich sah auf das rote Muster der Tischdecke, als ich aufblickte, bedeckte dasselbe rote Muster die Decke, die Fenster und die Wände, und schließlich den ganzen Raum, meinen Körper und das Universum. Ich begann mich selbst aufzulösen und fand mich in der Unbegrenztheit von nicht endender Zeit und in der Absolutheit der Fläche wieder. Ich reduzierte mich auf ein absolutes Nichts“, beschrieb Yayoi Kusama später einmal ihre Ängste.

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Die Halluzinationen hielt die junge Kusama in Skizzen fest und bewies dabei ein außerordentliches künstlerisches Talent. Überraschenderweise erlaubte ihr die Mutter 1948 den Besuch der Kyoto School of Arts and Crafts. Für diese Gunst verlangte sie jedoch eine Gegenleistung: Yayoi sollte bei Verwandten in Kyoto die japanische Etikette erlernen. Die Nachwuchskünstlerin hatte in den darauf folgenden Jahren einige Ausstellungen, doch die Anerkennung der japanischen Kunstwelt blieb ihr (zunächst) verwehrt. Eine Ausstellung ihrer Werke in New York war dann ein Wink des Schicksals. 1957 ging Kusama nach Big Apple und brach mit ihren Eltern, die ihre Entscheidung nicht guthießen.

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Doch der große Erfolg wollte sich nicht so schnell einstellen. Eine Niederlage, die sie auch seelisch sehr belastete. Sie begab sich daraufhin freiwillig in eine psychiatrische Behandlung. Nicht das letzte Mal. Kusama schämte sich deswegen nie und hat ihre fragile Psyche, ihre Neurosen und Wahnvorstellungen auch nie verschwiegen. Sie sind Teil ihres Lebens und Teil ihres Schaffens. Es ist müßig, die ewige Frage zu erörtern, ob seelische Leiden Kreativität fördern. Aber es ist zumindest auffällig, dass einige große Künstler mit einer labilen Psyche zu kämpfen hatten.

"Ein Punkt unter Millionen von anderen Punkten", so begreift Yagoi Kusama ihr Dasein in dieser Welt.

„Ein Punkt unter Millionen von anderen Punkten“, so begreift Yagoi Kusama ihr Dasein in dieser Welt.

Edvard Munch litt unter bipolaren Störungen. Paul Gauguin war manisch depressiv. Seinem Freund Vincent van Gogh erging es nicht besser, sein abgeschnittenes Ohr im Bordell abzugeben, sprach für sich. Yayoi Kusama hat nicht nur das Glück, noch zu Lebzeiten weltberühmt zu werden, sie lebt auch in einer Zeit, in der man Menschen mit Halluzinationen und Obsessionen nicht als Verrückte abstempelt. Kusama verarbeitet, damals wie heute, ihre Angst, „sich im Raum aufzulösen“, im künstlerischen Prozess. Eine Therapie, von der nicht nur die Künstlerin partizipiert. Vielleicht waren die Fünfziger noch nicht bereit für eine Yayoi Kusama. Die Sechziger waren es. New York erkannte plötzlich das Potential der begabten Japanerin, die sich dann rasch in der zeitgenössischen Kunstszene etablierte. Nach Gruppenexpositionen folgten Einzelausstellungen, in denen sie ihre spektakulären Werke präsentierte; Objekte mit netzartigen Mustern oder übersät mit Punkten. Nicht nur Netzstrukturen und Dots waren charakteristisch für Kusamas frühe Werke. Sie scheute sich nicht, auch phallische Formen als künstlerische Ausdrucksform einzusetzen.

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Das ist umso exzentrischer, wenn man weiß, dass Yayoi Kusama Angst vor phallischen Objekten hatte. Ob diese speziellen Werke nun der Phobie-Bewältigung dienten, sei dahin gestellt, doch eindrucksvoll waren sie ganz gewiss. So eindrucksvoll, dass die Couch „Accumulation No. 1“, ein Sofa überzogen mit phallusartigen Stoffwülsten, zusammen mit Werken von Andy Warhol 1962 in der Green Gallery ausgestellt wurde. Kusamas avantgardistische Schaffenskraft beschränkte sich nicht nur auf Leinwände und Skulpturen, auch raumgreifende Installationen prägten ihren ungewöhnlichen Stil. Nicht zu vergessen, ihre Kunst-Happenings mit nackten Menschen, denen sie Punkte aufmalte. Diese waren selbst für die Avantgarde etwas Außergewöhnliches. Die Punkte-besessene Popart- Pionierin erregte ohne Zweifel Aufsehen. Doch ihre Popularität und ihr Wirken in New York zehrten an Kusamas Kräften. 1973 ging sie zurück nach Japan. Punkte contra Psychose. „Auslöschung“, so bezeichnet Yayoi Kusama den Punkt-Prozess, „Wenn du deinen Körper mit Dots bemalen lässt, wirst du Teil der Einheit des Universums“. Die Polka Dots verhindern Einzigartigkeit, Individualität. Die „Ikone der zeitgenössischen Kunst“ hat ihre Seelennöte nie in den Griff bekommen. Seit Mitte der Siebziger lebt sie bis heute freiwillig in einer psychiatrischen Klinik in Tokio. Von dort pendelt die immer noch äußerst produktive Künstlerin regelmäßig in ihr Atelier.

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Neues wagen, seinen kreativen Horizont erweitern, auch das gelingt der 83-Jährigen mit Bravour, wie die aktuelle Zusammenarbeit mit Louis Vuitton zeigt. Marc Jacobs, Chefdesigner von Louis Vuitton, und die exzentrische Avantgarde- Künstlerin sind auf den ersten Blick ein bizarres Paar. Was sie vereint? Kreatives Denken und der Wille, der Welt ihren wundervollen Stempel aufzudrücken. Für Louis Vuitton nicht der erste schöpferische Ausflug. Nach zahlreichen Künstler- Kollaborationen, unter anderem mit Richard Prince, Stephen Sprouse und Takashi Murakami, verneigt sich das Pariser Modehaus jetzt vor Yayoi Kusama. Die Zusammenarbeit ist für die Japanerin weit mehr als eine kreative Herausforderung. Sie nutzt die Kooperation, um ihre ganz persönliche Botschaft in die Welt hinaus zu tragen, die da lautet: „Love forever“. Lieben werden Louis Vuittons Fans das modische Punktfieber ganz sicher. Polka Dots sind in der Fashion Welt zwar nichts Neues, doch Yayoi Kusama und Marc Jacobs interpretieren das Thema auf wundervoll unbeschwerte Weise neu – und im besten Sinne – auch ein wenig verrückt. Mode-Maniacs dürfen sich auf die inspirierende Kollektion namens „Infinitely Kusama“ freuen, die ab dem 10. Juli 2012 die Modewelt mit künstlerisch wertvollen Punkten aufmischt. Dots, wohin man schaut. Auf Kleidern, Schals, Schuhen, Schmuck, Taschen und Portemonnaies – kein Fashion Item ohne Punktlandung. Jacobs und Kusama lancieren nicht nur die gemeinsame Modekollektion „Infinitely“. Die Zusammenarbeit zieht weitere Kreise. So werden Kunstwerke, an denen das französisch-japanische Kreativ-Team gemeinsam gearbeitet hat, in der Louis Vuitton Maison in London ausgestellt.

"Man sieht eine Welt, die kein Ende hat, und ich glaube, dass dies der Grund ist, warum ich sie bewundere und sie liebe, deswegen reagiere ich mit großen Gefühlen auf sie und ihre Arbeit", Marc Jacobs.

„Man sieht eine Welt, die kein Ende hat, und ich glaube, dass dies der Grund ist, warum ich sie bewundere und sie liebe, deswegen reagiere ich mit großen Gefühlen auf sie und ihre Arbeit“, Marc Jacobs.

Die Luxusmarke unterstützt auch die weltweite Wanderausstellung der japanischen Künstlerin, die im Mai letzten Jahres im Reina Sofia, dem Museum für Gegenwartskunst in Madrid, ihren Anfang nahm, dann in das Centre Pompidou in Paris umzog und bis zum 5. Juni 2012 in der Londoner Tate Modern Gallery zu sehen war. Die letzte Station der Kusama Ausstellung ist New York, hier kann man vom 12. Juli bis 30. September 2012 im Whitney Museum of American Art die innovativsten Werke der exzentrischen Künstlerin bewundern. Für Marc Jacobs war die Zusammenarbeit mit Yayoi Kusama auch nicht Business as usual. „Man sieht eine Welt, die kein Ende hat, und ich glaube, dass dies der Grund ist, warum ich sie bewundere und sie liebe, deswegen reagiere ich mit großen Gefühlen auf sie und ihre Arbeit“, begeistert sich der charmante LV Chefdesigner in einem Interview, „Es ist eine wundervolle Sache, wie zeitgenössische Kunst auf eine Art und Weise das Umfeld rührt und dieses verändert. Und für viele Menschen, die sich nicht für Kunst interessieren oder Kusamas Werke eventuell nicht kennen, wird es einen neuen Ort, einen neuen Platz geben, wo man diese Arbeiten sehen kann und vorbei kommen kann, um diese durch die Augen von Louis Vuitton schätzen zu lernen“. Die Kooperation mit Louis Vuitton ist sicher nicht Yayoi Kusamas letztes Projekt. Nach wie vor kanalisiert die 83-Jährige ihre Obsession in kreative Energie. Großflächige Werke, umfassende Installationen faszinieren die agile Künstlerin immer noch. Dass sie in einer Nervenheilanstalt lebt, beschränkt sie keineswegs. Yayoi Kusama lässt sich nicht begrenzen. In keinster Weise. Punktum.

 

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