19 Jun 2.03 Sekunden Nachhall
Es ist ein Zustand seltener Euphorie, der den Besucher beschleicht, wenn er erstmals in seinem Leben das Foyer des Wiener Musikvereins betritt. Hier also, hinter den angrenzenden Türen, wartet er: der unvergängliche Augenblick des idealen Klangs.
In einem Raum voller goldener Putten und Schnörkel, geziert von schlichten weißen Plastiken, umrahmt von einer reich geschmückten Holzdecke. Hier, im Großen Saal, thront unsichtbar Frau Musica. Hier gilt’s ausschließlich der Musik. Noch mehr als 140 Jahre nach seiner Eröffnung eilt dem Haus zwischen Kärtner Ring und Karlsplatz, an der Ecke Bösendorferstraße, stets derselbe Ruf voraus: Bestklingender Konzertsaal der Welt! Ein Mysterium, oft kopiert, aber nie wiederholt. Denn jeder philharmonische Saal birgt Risiken. Töne können sich penetrant wichtigmachen. Mal rufen sie ungewollte Echos hervor, mal mangelt es ihnen an Tragkraft. Dann verschwinden sie plötzlich, noch bevor sie in der letzten Reihe angekommen sind. Sekundenbruchteile entscheiden über Eingebundensein oder Ausgrenzung. Selbst im Zeitalter der Computer-Animationen und modernster Simulationstechniken ist das in Wien Geschaffene bislang unerreicht geblieben. Dabei scheint das Erfolgsrezept für einen gut klingenden Konzertsaal denkbar einfach: 1-1-2. Was wie die Rufnummer der Feuerwehr wirkt, ist das Verhältnis von Breite, Höhe und Länge, die berühmte Schuhkarton-Form. Mit seinen 19 Metern Breite ist der „Goldene Saal“, wie er huldvoll genannt wird, relativ schmal, mit seinen 18 Metern Höhe relativ hoch.
Doch nackte Zahlen allein machen aus einem wohl-proportionierten Raum noch keinen vollkommen klingenden Saal. Es braucht eine Resonanz, die sich im Raum verteilt, die aus den Wänden zu atmen scheint. Wenn vorn ein Orchester sitzt, dürfen selbst fließende Übergänge zwischen Laut und Leise nicht verwässern, haben plötzlich abreißende Bläser-Akkorde durch freundlichen Nachhall das Recht auf ein Leben nach dem Tod. Dieser Nachhall ist physikalisch messbar; er basiert auf der Zeit, die vergeht, bis der Schallpegel im Raum um 60 Dezibel abgefallen ist. Der magische Wert im Musikverein liegt bei 2 Sekunden und einigen Millieinheiten hinter dem Komma. Eine simple Ziffer also und doch ein Ewigkeitswert. Die Zeit als Geheimnis, errechenbar und zugleich unergründlich. Erklärungsversuche gibt es viele, warum der Wiener Saal so klingt wie er schwingt.
Der dänischstämmige Architekt, Theophil Edvard Hansen, späterer k.&k – Freiherr von Hansen, wurde 1867 beauftragt, der Stadt Wien einen neuen Konzertsaal zu bauen. Der alte im Haus „Unter den Tuchlauben“ hatte ausgedient, er war für wachsende Symphonieorchester und breiteres Publikumsinteresse zu klein geworden. Kaiser Franz Joseph I. erwies sich als spendabel und schenkte der Stadt ein Grundstück. Hier sollte ein Prachtbau nach französischem Vorbild entstehen: napoleonische Pariser Pracht am Wiener Ring. Hansen ließ sich von seinen mehrjährigen Berufserfahrungen in Griechenland inspirieren. Er baut keine klirrend-abweisende Burg, keine Kathedrale aus Carrara-Marmor. Sein für die Wiener Ringstraßen-Epoche typischer Neoklassizismus verbindet strenge Linienführung nach antikem Vorbild mit dekorativer Renaissancepracht. Ein Bau mit Säulen, Bogenfenstern, Karyatiden, Wölbungen, Giebelreliefs. Ein Tempel der Musik!
Die innere Grundstruktur wirkt einfach: ein gleichmäßig ebenerdiges Parkett, leicht erhoben das Bühnenpodium, umlaufend eine schmale Galerie. Keine Deckensegel, keine Schallverstärker, kein absorbierender Schnickschnack. Damals konnte man noch nicht errechnen, wie der Saal klingen würde. Daher suchte man andernorts nach Anregungen, bemühte Wahrscheinlichkeiten, erforschte Analogien. So sehr Hansen seinen Entwurf klar und rhythmisch gegliedert hat, geholfen hat ihm letztlich das Material: Die Decke etwa, ein kunstvolles Wechselspiel von Farben und Formen – im Mittelpunkt die Gemälde um Apollo und die neun Musen –, bildet nicht bloß den konventionellen Deckel des Raumes: sie hängt unterhalb des Dachstuhls und birgt einen eigenen Resonanzraum. Ebenso der Fußboden. Unter dem Parkett gibt es einen zusätzlichen Hohlraum. Das unterscheidet Wien von manch anderer Stadt: Hier hat man keine klingende Mehrzweckhalle gewuchtet, keinen tönenden Supermarkt gewollt. Nein, man hat, um den puren Wohlklang zu ermöglichen, gezielt eine Herberge für die ortsansässigen Philharmoniker und andere Orchester errichtet, prunkvoll, aber nicht überquellend, sachdienlich, aber spielerisch drapiert.
Dabei wäre um ein Haar der ganze Bau nach nur zwei Wochen abgebrannt. Wie es sich für einen solchen Saal gebührt, wurde er gleich mehrfach eingeweiht: zunächst mit Beethovens Fünfter beim offiziellen Eröffnungskonzert am 6. Januar, ferner mit einem Ball, für den Johann Strauß eigens den Walzer „Freut Euch des Lebens“ geschrieben hat und schließlich mit einem Konzert von Clara Schumann, der Witwe des Komponisten Robert – eine der großen Klaviervirtuosinnen ihrer Zeit. Sie spielte zur Eröffnung des angrenzenden Kleinen Saales, dem heutigen Brahms-Saal. Ein Ereignis für Wien, da Clara erstmals nach sechs Jahren und triumphalen Auftritten in die Donaumetropole zurückgekehrt war. Nach dem Konzert – das Publikum hatte das Gebäude bereits verlassen – bricht ein Feuer in der Garderobe aus. Glücklicherweise kann es schnell gelöscht werden, lediglich die Blattvergoldungen müssen komplett erneuert werden, auch im Großen Saal. Ein Grund mehr, ihn nochmals einzuweihen. Im Februar folgt die Wiedereröffnung mit einem Oratorium, Anton Rubinsteins „Der Turm von Babel“. Ein Tor, wer darin eine Symbolik erkennen will …
Wien ist begeistert von seinem neuen Saal: „So hoch auch die Erwartungen gehen mochten, so wurden sie doch von dem ersten Eindruck des Saales überboten, der an architektonischer Schönheit und stilvoller Pracht einzig in seiner Art dasteht“, heißt es in der Presse. Einzig Wiens Chefkritiker, Eduard Hanslick, träufelt Zweifel in den allgemeinen Jubel und fragt, ob der Saal „nicht zu glänzend und prachtvoll sei für einen Concertsaal …“ – Wirkt all die Pracht ablenkend? Hanslicks damalige Kollegen widersprechen: „… in den architektonischen Einzelheiten, in der Ornamentik, den Farbtönen wie in der Gliederung der Massen spricht sich eine Empfindung aus, die man musikalisch nennen möchte; wäre es möglich, die große Jupiter-Symphonie von Mozart sich in festen, sichtbaren Formen konstruiert zu denken, so würde dieser neue Saal des Musikvereins-Gebäudes ein entsprechendes Bild liefern.“
Ob kühne Konstruktion oder ein Produkt des Zufalls – die Pracht des Saales, die vielen Figuren und Verzierungen, dienen letztlich vor allem einem Zweck: dem Klang. Wo in modernen Konzerthäusern entweder sichtbare Klangverbesserer, etwa Reflektoren oder Hallkammern, nachträglich eingepflanzt werden müssen oder gezielt der Nüchternheit gefrönt und allem schmückenden Beiwerk eine Absage erteilt wird, sind es im Wiener Musikverein die vielen Ornamente, die als Schallverteiler dienen.
Man könnte das das komplette Who’s who der Dirigenten befragen, sie alle würden schwärmen von der Einzigartigkeit des Klangs. Bruno Walter, einer der Großen des 20. Jahrhunderts, adelte den Saal mit den Worten: „So groß der Raum, so vernimmt man auch in dem fernsten Winkel die schnellsten Figuren mit voller Klarheit und präziser Abgrenzung.“ Und das nicht nur auf der Bühne. Ziel eines jeden Konzertsaales ist, dass jeder Punkt im Raum gleich wichtig und gleich hör-günstig ist. Das gilt für die Musiker auf der Bühne, die einander verstehen müssen, genauso wie für das Publikum. In Wien mit seinen rund 1700 Plätzen sind die Wege von Direktschall und Restschall überall gleich. Im „Goldenen Saal“ gibt es keine Ritzen, die den Schall schlucken, keine metallischen Gitter, die ihn mit Verspätung ans Ohr des Hörers tragen – hier sind Innen- und Außenhaut eine Einheit. Der Klang lebt für kaum mehr als zwei Sekunden. So knapp liegen reale Vergänglichkeit und gefühlte Zeitlosigkeit beieinander. Treffend formulierten bereits die Musikvereins- Freunde in ihrer Urkunde zur Schlusssteinlegung 1870: „Der Tonkunst in Schule und Meisterschaft geweiht, soll dies Haus sein und bleiben: ein Kunstwerk an sich, eine Heimat der Musik, eine Zierde der Stadt und des Reiches.“
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