15 Aug Auftrag von oben
Verklären wir die Kunst von Psychotikern wie einst die Surrealisten, wenn wir ihnen eine besondere Aura zuschreiben? Dabei lässt sich der Zusammenhang zwischen Kreativität, Kunst und Psychose heute kaum mehr noch entkräften: Kunst kann ein Ausdruck von Wahnsinn sein.
Schlichte Häuser und Baracken stehen entlang einer unbefestigten Straße. Dazwischen eine alte Missionskirche, nicht weit davon entfernt ist eine hohe Mauer und drum herum die karge Landschaft der Halbwüste Karoo. Nieu Bethesda ist ein Kaff, mitten im Nichts, weit abgelegen von den großen Städten Südafrikas. Viele Jahre lang lag das, was hinter der Mauer ist, im Verborgenen. Getrennt von der kleinen Gemeinde und dem Rest der Welt. Wer heute nach Nieu Bethesda gelangt, kann es sich ansehen – das Dahinter: Ein Garten voller merkwürdiger Gestalten, allesamt aus Zement, tummeln sich um ein surreal anmutendes Anwesen. Das Owl House. Hier lebte die Einsiedlerin und Farmers-Tochter Helen Martins bis zu ihrem Tod im Jahr 1976. Die Mauer um ihren Garten hatte sie einst in Auftrag gegeben, um zu schützen, was sie selbst erschaffen hatte. Die Figuren, aufgestellt wie eine Garde, scheinen zu bewachen, was sich innerhalb des Owl House befindet. Ein hochsensibles Konstrukt aus gläsernen Wänden, farbigem Glas und Spiegeln, die Kreuz- und Herzformen aus zerstoßenen Scherben ummanteln. Dazwischen flattern damals wie heute unzählige Eulen. Der Bruch zu der buntglitzernden Zauberwelt, ist ein fensterloser Raum. Komplett in Schwarz gestrichen. Er verweist auf den Anfang ihres künstlerischen Schaffens: Der Tod des Vaters.
Ende der 1920er Jahre kehrte Helena Martins als junge, gerade vom Ehemann geschiedene Frau nach Nieu Bethesda zurück. Zuerst starb die Mutter, dann der Vater. Helen Martins blieb vereinsamt im Elternhaus zurück und fing damit an, farbiges Glas in einer Kaffeemühle zu zermahlen. Die winzigen Splitter klebte sie an Wände und Fenster. Jahrelang tat Helen Martins das. Das zwanghafte Spiel von Farben, Formen und Reflexionen hatte sie eingenommen. Vielleicht war dies der Versuch das Licht in ihrem Leben selbst zu bestimmen. Umso tragischer war ihr Ende: Helen Martins drohte zu erblinden. Sie kam der Schattenwelt zuvor, in dem sie sich selbst ein tödliches Gift verabreichte.
Erst nach ihrem Tod entdeckte man ihr Werk. Das Owl House wurde bald über die Grenzen Südafrikas bekannt. Heute ist Nieu Bethesda noch immer das winzige Dorf im Nirgendwo, ohne eigene Bahnstation, aber mit enormem Besucherstrom. Zu groß ist das Verlangen vom Owl House gleichermaßen fasziniert wie verstört zu werden. Das Anderssein der Helen Martins stellt auch unsere eigenen Lebensnormen in Frage. Knapp 40 Jahre nach ihrem Tod, nimmt die Künstlerin die Betrachter mit in ihre bizarre Welt. Erst durch ihre Augen können wir sie sehen, die Zerbrechlichkeit der menschlichen Existenz. Wir spüren Helen Martens Drang eine neue Ordnung für ihr verlorenes Dasein zu finden. Mit dem Owl House ist es ihr gelungen, eine Brücke von unserer Welt in ihren befremdlichen Kosmos zu schlagen. Das, was wir dort spüren, ist die leise Gefahr, sich selbst darin verlieren zu können – das ist die Kunst, die an unseren eigenen Dämonen rüttelt.
Auf die Frage, ob ein wahrer Künstler verrückt sein muss, liefert die Forschung heutzutage interessante Antworten. Tatsächlich kann eine Krankheit als kreative Kraft wirken, um andere Sichtweisen zu eröffnen. Das klingt heikel und das ist es auch. Schon seit der griechischen Antike hält sich die Legende, dass Genie und Wahnsinn dicht beieinander liegen. Sicher ist: Eine psychische Krankheit allein macht noch keinen Künstler. Auch ist die seelische Störung nicht unbedingt Quelle für künstlerisches Schaffen – kann es aber durchaus sein. Der Zusammenhang lässt sich mittlerweile sogar wissenschaftlich darstellen. Denn es gibt ein Gen für Kreativität. Neuropsychologen vermuten, dass diese Genmutation für eine geschwächte Filterfunktion im Gehirn verantwortlich ist. Das Neuregulin 1 hemmt die schnelle Verarbeitung von Informationen, die uns durch Millionen von Reizen sekündlich erreichen. Wenn dieser Filter sozusagen durchlässig ist, spalten und bündeln wir die Informationen durch eigene Assoziationsketten, um uns zu entlassen. Dadurch sind wir in der Lage die Informationen umzugestalten, gedanklich auszuloten oder sie zu formatieren. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass ein intakter Filter weniger „spalten“ muss, aber auch gleichzeitig die Kreativität einschränkt.
Aber wie durchlässig darf so ein Filter überhaupt sein, damit am Ende das kreative Gehirn nicht durch wuchernde Assoziationen und äußere Einflüsse überschwemmt wird? Eine eindeutige Antwort gibt es darauf bisher nicht. Von den milden Formen psychischer Störungen ist dann die Rede, sie können ein Generator für Kreativität sein.
Nur ist der Grad zwischen freiem Denken und schizophrener Gedankenflucht durchaus schmal. Den Wahnsinn zu verklären, wäre grundliegend falsch: Wahnsinn tötet das Genie in uns und legt alle kreativen Prozesse lahm. Eine diagnostizierte Schizophrenie steht selten für Produktivität. Die Krankheit umschreibt zeitlich unbegrenzte Perioden von Einbrüche elementarer Angst, Versunkenheit und starken Depressionen. Künstler, von denen wir heute eindeutig wissen, dass sie schizophren waren, bilden noch immer die Ausnahme. Einer von ihnen ist Karl Genzel. Entdeckt wurde seine Kunst von dem Psychiater und Kunsthistoriker Hans Prinzhorn, dessen Sammlung und Buch „Bildnerei der Geisteskranken“ bis heute weltweit als die bedeutendsten Quellen bildnerischer Werke von Psychiatriepatienten gelten. Prinzhorns Notizen verdanken wir auch die biografischen Angaben von Karl Genzel. Seit seiner Jugend in den 1880ern verhielt sich Brendel auffällig. Gewalt, Wutausbrüche und Angriffe auf die Staatsgewalt hatten ihm mehrfach Haft- und Geldstrafen eingebracht. Nach einem Arbeitsunfall musste dem Maurer das linke Bein amputiert werden. Erfolglos führte Genzel einen erbitterten Kampf mit der Krankenkasse um seine Rente. Er wurde obdachlos, schlug sich als Hausierer und Bettler durch. Zu dieser Zeit stellten sich bei Genzel starke Halluzinationen ein, zudem litt er unter Verfolgungswahn. Während eines weiteren Gefängnisaufenthalts wies man ihn gegen seinen Willen in die psychiatrische Anstalt ein. Die Diagnose: Schizophrenie.
Wann genau Genzels Schaffensphase innerhalb der Anstalt-Mauern begann, ist nicht dokumentiert, aber seine Technik beruhte zuerst nur darauf aus gekautem Brot kleine Plastiken zu formen. Später schnitzte er sie aus Holzstückchen, die er bemalte und lackierte. Es sind Reliefs, die im krassen Gegensatz zu den statischen Skulpturen der wilhelminischen Zeit stehen. Bei Genzel dominieren Männer- und Frauenkörper, die aus Beinen, Kopf und Geschlechtsteil bestehen, andere lassen gleich mehrere Körper ineinander verschmelzen. Eine radikale Kunstform, die zu Genzels Ära seinesgleichen sucht. Nur woher nahm Genzel, die meisten Zeit eingesperrt in seiner Zelle, die Kraft zum Schöpfen? Immer wieder plagten ihn schlimme Anfälle: Er tobte und schimpfte laut, verteufelte seine Verfolger oder die nackten Frauen und fiel danach tagelang in sich zusammen. Verzweiflungsattacken und der blanke Zorn wechselten sich mit einer unbeherrschten Produktivität ab. Jahrzehntelang. Heute bezeichnet die Psychologie letzteres als Wahnarbeit. Der Erkrankte versucht die fremdartigen Erlebnisse wie beispielsweise akustische Halluzinationen oder Paranoia in eine psychische Struktur zu bringen. Eine Sonderwelt mit eigenen Gestalten und einer eigener Ordnung. Das muss nicht, kann aber auch Kunst sein. Im Fall Genzel gibt ein überlieferter Satz des Künstlers selbst Auskunft über die künstlerischen Formen des systematisierten Wahns: „Wenn ich ein Stück Holz vor mir habe, dann ist da drin eine Hypnose. Folge ich der, so wird etwas daraus, sonst aber gibt es Streit.“ Bei Schizophrenie-Kranken reicht nur ein Reiz, ein Geräusch oder ein einziges Wort, um unzählige eigenwillige Assoziationsketten auszulösen. Man muss sich dabei ein kleines Inferno im Gehirn vorstellen, die die oben bereits erwähnte Filterfunktion hemmt und sogar ganz außer Kraft setzt. Genzel litt fast sein ganzes Leben lang daran. Aus der Anstalt wurde er nie entlassen. Zehn Jahre nach seinem Tod wurden seine Werke unter dem berüchtigt-kläglichen Titel „Entartete Kunst“ ausgestellt. Es war der Versuch der Nazis, die moderne Kunst als krank zu entlarven. Parallel besungen die Surrealisten die Werke psychisch Kranker als die unverfälschten Urformen wahrer Kunst, zusammengefasst unter dem damals neuen Sammelbegriff Art Brut (unverbildete, rohe Kunst).
In den ersten Werken der Art Brut finden sich tatsächlich viele verschiedene Ausdrücke der Psychose. Aber können wir als Betrachter überhaupt den Unterschied zwischen „wahnsinniger“ Kunst und der von Exzentrikern feststellen – und sind solche Kategorien überhaupt noch zeitgemäß? Laut neuesten Forschungen können Träger des Neuregulin 1 mit einer ausgeprägten Intelligenz und leistungsstarkem Arbeitsgedächtnis der Schizophrenie entgehen. Der 1850 geborene deutsche Maler, Bildhauer und Architekt Karl Junker könnte so ein Grenzfall gewesen sein. Das Junkerhaus, es lässt sich heute als Museum besichtigen, ist sein Gesamtkunstwerk und ein Zeugnis außergewöhnlich obsessiver Schöpfungskraft. Der zweigeschossige Fachwerkbau mit Backsteinsockel ist reich verziert an eigentümlicher Ornamentik. Wie die Fassade wirkt auch das Innere sonderbar überladen. Keine Wand, keine Decke ist im Junkerhaus ohne Holzverkleidung. Die meisten von ihnen sind zusätzlich bemalt, in ihren Stilrichtungen ähneln sie Ideen aus Junkers Zeit, dem ausgehenden 19. Jahrhundert, und doch findet sich darin etwas seltsam eigenes – etwas, das man nur der Kunst Junkers zuordnen kann.
Noch extremer in seiner Form ist das Gesamtkunstwerk von Ferdinand Cheval. Tagtäglich erledigte der Postbote routiniert seinen eintönigen Job, händigte Zusendungen auf einer ländlichen Strecke von 32 Kilometern aus und ging wieder nach Hause in ein kleines Dorf im Südosten Frankreichs. Nachts aber widmete Cheval sich wie besessen seinem zweiten Leben: Den Bau des eigenen Palastes. Ohne jegliche Kenntnisse über die Architektur, ohne handwerkliche Übung oder Kapital für seine ambitionierten Baupläne, begann Cheval damit seinen Traum Stein für Stein in die Wirklichkeit umzusetzen. Er konstruierte ein Gerüst, nach und nach entstanden Korridore wie in einem Labyrinth, Wendeltreppen, Terrassen und Türme, die wie die delirierende Mischung aus Aztekenreich und barocker Fassadenkunst scheinen. Die Steine dafür sammelte Cheval selbst. Außer Kalk und Zement kaufte er nichts und so entstanden über Jahre ganze Phantasielandschaften im Stile aller Herren Länder. Burgen, Grotten, Tempeln, Kirchen und Moscheen, allesamt mit originellen und einem gleichsam naiven Dekor: Steinerne Palmen, Hirschgeweihe oder Ananasfrüchte. Muschel-Mosaiken zieren ein Schweizer Chalet. Inspirieren ließ sich Cheval von den Reisejournalen seiner Ehefrau. Das Dorf, in dem er lebte, verließ er dabei nie. Wie auch Helen Martens ließ Cheval eine hohe Mauer um seine Baustelle errichten. Längst hatten ihn die Dorfbewohner als Sonderling oder Spinner abgetan. Den großen Palast, wie er ihn zuvor in seinen Träumen gesehen hatte, stellte er nach 33 Jahren fertig. Tierskulpturen, die Cheval ebenfalls eigenhändig geformt hatte, säumen sich entlang der 26 Meter langen Palastmauer. Zehn Meter ist das Gebäude hoch. Es sollte eine Art Mausoleum sein, nur dafür bekam Cheval keine Genehmigung. Sein letztes Bauwerk entstand daher in einer Ecke des Dorffriedhofs. Sein Grabmal in Form eines zweiten Palasts. Auch hier waren es die Surrealisten, die nach dem Tod des Künstlers sein Werk lobten. Obwohl die Bauten des Postboten Cheval unter Denkmalschutz stehen, sind sich Kunstkritiker bis heute noch immer nicht über den eigentlichen Wert des Werkes einig. Naive Kunst? Ein Haufen Unsinn? Oder das Zeugnis eines Besessenen? Zu Lebzeiten blieb Cheval gänzlich unverstanden, posthume Anerkennung liefern hunderttausende Menschen, die jährlich zu seinen Bauten pilgern. Die Frage nach seiner mentalen Verfassung rückt dabei in den Hintergrund. Was nicht verblasst ist der Zauber seiner Werke. Eine Art Magie, die nur die Kunst schafft.
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