06 Jun Liebes Reh
„Seed“ ist der elfte und jüngste Beitrag der Reihe, der Anfang Februar in New York Premiere feierte und von der japanische Regisseurin Naomi Kawase umgesetzt wurde. Die Eröffnungssequenz spielt in Nara, der Geburtsstadt der Regisseurin. Dessen zentraler Park ist berühmt für seine Sikahirsche.
Sie gehört zu den wenigen weiblichen Filmemachern Asiens, die sich auf der internationalen Bühne durchsetzen konnten. In Cannes ist die 46-jährige längst Dauergast. 1997 wurde sie an der Croisette für ihren Film „Moe no Suzaku“ als bislang jüngste Gewinnerin mit der Goldenen Kamera für den besten Erstlingsfilm ausgezeichnet. 2007 erhielt sie für ihren Film „Mogari no Mori“ („Der Wald der Trauer“) den Großen Preis der Jury. lm darauffolgenden Jahr eröffnete ihr Film “An“ 2015 die Festivalsektion „Un Certain Regard“, die anspruchsvollen wie ungewöhnlichen Filmen gewidmet ist.
Ein Thema, das die Arbeiten von Naomi Kawase verbindet, ist die feinsinnige Beobachtung von Ritualen. Alltägliche Handlungen wie das Zubereiten von Speisen werden von ihr auf poetische und höchst sinnliche Weise eingefangen. Auch die Familie spielt eine wichtige Rolle, was nicht zuletzt auf ihren eigenen biografischen Hintergrund verweist: Als Kind ist Naomi Kawase von ihren Eltern verlassen worden und wuchs bei ihren Grosseltern auf. Einsamkeit und Sehnsucht bilden ebenso wiederkehrende Themen wie eine Sympathie und Neugierde für Außenseiter und Eigenbrötler – Menschen, die nicht angekommen sind, sondern sich stets auf der Suche befinden.
Mit ihrem neunminütigen Kurzfilm „Seed“ begibt sich Naomi Kawase in ihre Geburtsstadt Nara. Bevor Kyoto die Rolle der Hauptstadt erlangte, wurde Japan in den Jahren 710 bis 784 von Nara aus regiert. Viele Tempel, Schreine und Ruinen stammen noch aus dieser Zeit. Ein beliebtes Reiseziel zur Kirschblütenzeit ist der Nara-Park, der auch für seine Sikahirsche bekannt ist. Genau dort setzt die Handlung des Films ein. Nebelschwaden hängen zu früher Morgenstunde zwischen den Bäumen. Koi-Karpfen sammeln sich an der Oberfläche eines Teichs. Kraniche ziehen vorbei. Eine atmosphärische Sequenz, die keinen Zweifel hinterlässt, auf welchem Fleck Erde der Film spielt. Doch trotz aller Häufung von Japan-Klischees: Das Ergebnis wirkt keineswegs klebrig, sondern bildet einen stimmungsvollen Auftakt für einen Ausflug in fernöstliche Ästhetik und Befindlichkeit.
Erzählt wird die Geschichte eines Mädchens, das in den Tempeln von Nara den Sonnenaufgang erlebt und später weiße Samen von einem Baum pflügt. Sie folgt der Sonne und trifft schließlich einen Jungen. Im Tausch gegen die Samen schenkt er dem Mädchen einen roten Apfel. Szenenwechsel nach Tokio: Dichte Menschenmengen bewegen sich durch Tunnel und überfüllte Straßen. Hochbahnen ziehen vorbei. Das Mädchen scheint davon weit entrückt – obwohl sie mittendrin steht im Gewühl. Sie bewegt sich in ihrem eigenen Rhythmus durch ihr eigenes Universum.
Nach einiger Zeit macht sie einen weiteren Tausch: Sie schenkt den Apfel einem Obdachlosen, der ihr dafür ein Stück weißen Chiffons überreicht. Ausgelöst durch die Bewegungen des Mädchens, beginnt der transparente Stoff im Wind zu tanzen. Bist Du müde, fragt das Mädchen den Obdachlosen: Ein wenig, sagt dieser. Woher kommst Du? Habe ich vergessen. Wohin schaust Du? In den Himmel. Du bist verrückt, sagt der alte Mann. Du bist auch verrückt, entgegnet ihm das Mädchen. Abermals Szenenwechsel nach Nara und die Natur. Wasserfälle fließen in Zeitlupe rückwärts. Herbstblätter wehen dem Mädchen entgegen – und während es die Hände zur gleißenden Sonne ausstreckt, scheint der Jahreszyklus wieder von vorne zu beginnen.
„Sie ist eine Elfengestalt, ein mysteriöses Wesen“, beschreibt Naomi Kawase den Charakter des Mädchens. Die Regisseurin arbeitet häufig mit Amateur-Schauspielern und Schauspielerinnen zusammen. Doch in diesem Falle übernahm mit Sakura Ando keine Unbekannte die Rolle. Die 30-jährige gehört zu den bekanntesten Schauspielerinnen Japans und wurde bereits mehrfach ausgezeichnet. Den Soundtrack des Film hat die japanische Band Sakanaction beigesteuert, die sich nicht nur mit eingängigen Folkmelodien und cleveren, japanischen Texten einen Namen gemacht hat. Auch Clubsounds und feinsinnige Instrumentalarbeiten gehören zu ihrem Repertoire. Für „Seed“ hat die fünfköpfige Gruppe atmosphärische Klänge erschaffen, die sich von einem ruhigen, fast meditativen Rauschen in der Anfangssequenz zu immer rhythmischen und treibenden Sounds steigern, ohne dabei die starken Bilder zu überrumpeln.
Naomi Kawase, die 2015 vom französischen Kulturministerium mit dem Orden der Künste und der Literatur ausgezeichnet wurde, ist nicht nur eine talentierte Regisseurin. 2010 hat sie das Internationale Filmfestival in Nara gegründet, das sie bis heute als Direktorin leitet. In den letzten Jahren hat sich das Treffen zu einer festen Adresse für Autoren-Filmschaffende entwickelt, die sich hier fernab von den kommerziellen Zwängen der Filmindustrie ihrer Leidenschaft hingeben können. Und genau darum geht es Naomi Kawase: Sie will mit Filmen Geschichten erzählen, die einen Blick auf andere und damit auch einen Blick auf sich selbst eröffnen. „Was passiert, wenn wir die Dinge auf dem Kopf sehen“, nimmt Naomi Kawase gerne als Auftaktfrage für ein neues Projekt. Mit „Seed“ hat sie darauf eine spannende Antwort gegeben.
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