Countdown - Die Magie der hohen Töne - Quality Magazine
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Countdown – Die Magie der hohen Töne

Es ist die Welt der Kastraten, der Countertenöre, der Altisten. Eingefleischten Musikforschern würden die Haare zu Berge stehen, wenn man diese Begriffe unscharf nebeneinander stehen ließe, doch sie alle stehen für ein Phänomen, das lange Zeit wie tabuisiert erschien und erst in den letzten zwei, drei Jahrzehnten eine beispiellose Renaissance erlebt hat. Die Tradition der Kastraten, ist alt. In der späten Renaissancezeit und im Barock schnellten Kastraten wie Farinelli und Senesino zu bleibendem Ruhm. Sie waren die Carusos und Pavarottis ihrer Zeit. Wann immer es um den Ausdruck des Magischen, des Übernatürlichen, des Spirituellen ging, wurden früher Falsettisten eingesetzt. Heute leuchtet das Ruhmeslicht über ihnen nicht mehr ganz so grell wie im Italien des späten 16. und des 17. Jahrhunderts, als sie Göttern gleich verehrt wurden; doch erstrahlen sie inzwischen wieder hell genug, um einen besonderen Zauber zu entfachen. Mit ihren hohen Tönen sind sie die Sonderlinge in der Klassik-Manege.

Foto © Beetroot Max Emanuel Cencic hat Risikolust in hoher Lage mit wachem Sinn für das Geschmeidige.

Foto © Beetroot
Max Emanuel Cencic hat Risikolust in hoher Lage mit wachem Sinn für das Geschmeidige.

Der Gesang von Countertenören gleicht einer Begegnung mit dem Unnatürlichen und zugleich dem Existenziellen: Er steht für eine Virtuosität, der man selbst im 19. Jahrhundert, im Jahrhundert des „Belcanto“, des – wörtlich – ‚schönen Gesangs‘, so nicht begegnet. Denn die Virtuosität der Countertenöre bemisst sich nicht allein im Richtigen, im Korrekten, im Balsamhaften, sie verlangt immer auch eine gehörige Portion Mut – Kunst und Gänsehaut.

Foto: Artaserse © Parnassus ARTS Productions, Julian Laidig

Foto: Artaserse © Parnassus ARTS Productions, Julian Laidig

Dass die Spezies der Falsettisten ausgerechnet zu einer Zeit wiederentdeckt wird, in der die Hochglanzklassik uns eine Welt des Rationalismus vorgaukelt, in der alles perfekt und gestylt abläuft, ist kurios. Damit einher geht jedoch eine Sehnsucht nach Authentizität, und ausgerechnet die liefern uns die „Falsch“-Sänger. Wer sich dem Einsatz der Kopfstimme, landläufig und fälschlicherweise auch „Fistelstimme“ genannt, verschreibt, wer also eine Oktave höher singt und spricht als normal, der gaukelt uns einerseits eine unnatürliche Welt vor; andererseits kann sich, wer sich tatsächlich singend durch diese abnormen Höhen bewegt, nicht verstellen: er muss absolut glaubwürdig sein; er muss sich auf den puren Klang konzentrieren. Das bemerkte schon Charles Burney, der 1734 in London, beim Besuch von Leonardo Vincis Oper „Artaserse“, von Verzückung berichtet, ja von Ekstase, und das, obwohl der Hauptdarsteller des Abends sich kaum regte: „Obwohl er während des Singens bewegungslos wie eine Statue auf der Bühne stand, war seine Stimme lebendig.“ Gemeint ist Farinelli, der bekannteste Kastrat seiner Zeit. Ihm huldigte der Adel nach Kräften. Man beschenkte ihn reich, mit Geld, mit diamantbesetzten Kniespangen. Eine Stimme, die – obwohl wir sie nie gehört haben – heute noch als Mythos gilt. Übernatürlich hoch singende Helden waren damals eben gewünscht, sie wurden verehrt. Dazu schien jedes Mittel recht. Die italienische Mezzosopranistin Cecilia Bartoli, eine der großen Sängerinnen unserer Zeit, behauptete einmal: „Wir entstellen unsere Körper im Namen der Schönheit; damals zwang man Kinder.“ Was sie meint? Einen kleinen chirurgischen Schnitt im Dienste der übernatürlichen Stimme. Damals hat man aus Kindern Kastraten gemacht, zum Wohle der Kunst – ein hoher Preis, den heute niemand ernsthaft zahlen würde. Heute braucht es Veranlagung, Talent, Stimmtraining, um so singen zu können wie die vokalen Götter von einst. Einer, der die Spezies der Countertenöre verstärkt ins Rampenlicht zurückgeführt hat, ist Philippe Jaroussky. In Deutschland wurde er entdeckt, als er 2004 für einen erkrankten Kollegen einsprang. Seither zählt er zu den Stars. Seine eigene Stimme zu beschreiben, fällt Jaroussky schwer. „Vielleicht klingt sie ein bisschen nach Frühling. Auf jeden Fall hat sie etwas Junges, Frisches. Außerdem ist sie noch entwicklungsfähig. Wenn man lernt, dieses innere Instrument zum Klingen zu bringen, gilt die Aufmerksamkeit zunächst technischen Aspekten. Dann beginnt die Reflexionsphase, man stellt Fragen: Wie sollen einzelne Töne klingen? Wie die Stimme sich entfalten? Gesang ist etwas Unvergängliches.“

Foto: © Marcus Ribes & Albert Vo Van Tan, Virgin Classics Philippe Jaroussky beherrscht die Kunst des Einfachen, des Schlichten, und so entfaltet sein Gesang immer eine eigene Magie.

Foto: © Marcus Ribes & Albert Vo Van Tan, Virgin Classics
Philippe Jaroussky beherrscht die Kunst des Einfachen, des Schlichten, und so entfaltet sein Gesang immer eine eigene Magie.

Genau das führt uns auch sein Kollege, der aus Zagrab stammende Max Emanuel Cencic vor Ohren; er hat gerade sein neues Album „Venezia“ vorgelegt. Sein Gesang fängt die theatralische Wucht ein, die in der italienischen Musik des 17. und frühen 18. Jahrhunderts die Opernhäuser erfüllt haben muss, vor allem in Venedig, damals die Opern-Hochburg schlechthin. „Mein Wunsch ist es, die Musik dieses alten Venedig neu zu erobern und die Emotionen und Farben einer Stadt heraufzubeschwören, die einst eine Weltmetropole war“, gesteht Cencic. Dafür hat er einige Arien ausgegraben, die jahrhundertelang nicht beachtet wurden, Welt-Ersteinspielungen mit Musik von Vivaldi, Caldara und Porta. Cencic ist ein Countertenor, der sich sicher durch die stimmlichen Regionen eines Mezzosoprans bewegt, mit Risikolust in hoher Lage, aber auch mit einem wachen Sinn für das Geschmeidige, für die vielen kleinen Nuancen und Farbwechsel.Sie klingen wie irdische Engel, die Spitzen-Countertenöre von heute, sie verfügen über die nötige vokale Kraft, aber auch über die erforderliche Form von Zärtlichkeit in der Stimme, über Anmut und einem schier endlos langen Atem. Wenn sie ihre ewig langen Notenketten zu geschwungenen Girlanden verbinden, ist das kein bloßer Sport nach den Vorgaben einer Partitur, sondern eine Kunst, die etwas Ursprüngliches und zugleich Unbegreifliches besitzt. Hirnforscher und Psychologen haben bereits versucht, diesem Phänomen auf die Schliche zu kommen. Aber muss man das überhaupt? Kann man sich nicht einfach verführen lassen?Wie wird man heutzutage zum Countertenor? Philippe Jaroussky, Jahrgang 1978, hat mit elf Jahren den ersten Geigenunterricht bekommen, mit 15 kam das Klavier hinzu. „Erst mit 18 hat sich mir das Universum des Gesangs aufgetan.“ Seine Lehrerin entdeckte 1996 Jarousskys stimmliche Qualitäten, so dass er alle Gedanken an eine Laufbahn als Instrumentalist fahren ließ. „Als ich anfing zu singen, standen zunächst die technischen Aspekte im Vordergrund. Man muss lernen, die Stimme zu kontrollieren. Man muss quasi in sich selbst hineinhören, um all die gleichzeitigen Prozesse wie die richtige Atmung zu koordinieren. Erst wenn man diese Phase überwunden hat, wird man freier. Dann beginnt die Reflexionsphase: Wie soll ein Ton klingen?“

Foto: Teatro Real © Javier del Real

Foto: Teatro Real © Javier del Real

1999 begann seine steile Karriere mit einer Aufführung des Oratoriums „Sedecia“ von Alessandro Scarlatti. Musikalisch ist Philippe Jaroussky längst ein Hochseilkünstler und Eskapist, einer, dem das Schwierigste gerade gut genug scheint. Ebenso beherrscht er die Kunst des Einfachen, des Schlichten, und so entfaltet sein Gesang immer eine eigene Magie. Seine Töne klingen wunderbar rund und bleiben dabei frei von Schärfe – eine besondere Fähigkeit, denn Falsettisten haben nun mal die Neigung zu trompetenhafter Direktheit. Jaroussky warnt davor, den Klang der Kastraten früher mit dem Klang eines Countertenors von heute zu vergleichen. „Die Kastraten konnten ihr Brustregister viel höher ziehen, wodurch sie sehr heroisch geklungen haben.“ Da die Countertenöre von heute also anders klingen, ist es für ihn nur legitim, hin und wieder auch anderes, nicht-barockes Repertoire zu präsentieren. „Natürlich musste ich mich zuerst einmal in dem für meine Stimmlage üblichen Repertoire behaupten, also Barock. Doch inzwischen bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass ich auch Repertoire aus Epochen singen kann, in denen es keine Countertenöre gab. Das gilt für Frühklassik und Klassik genauso wie für das Lied im 19. Jahrhundert.“ Warum nicht? Wer ihn mit Liedern des späten 19. Jahrhunderts, mit Musik von Gabriel Fauré oder Reynaldo Hahn hört, wird nicht mehr darüber nachdenken, ob das wirklich zu einem Countertenor passt. Auf die Ausdruckskraft kommt es an, nicht auf das Stimmfach. Die Wiederentdeckung des Countertenors geht einher mit dem Sinn für die Reize des Zweideutigen. Das hat schon Johann Sebastian Bach gewusst. Er hat 1726 eine Kantate für einen Altus mit ungewöhnlichen technischen Fähigkeiten komponiert. Ihr Titel: „Geist und Seele wird verwirret“.

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