09 Jul Blütenrausch
Damien Hirst bricht mal wieder die Klischees. Man ist viel gewohnt von dem aufmüpfigen Briten, der schon oft sehr kontrovers diskutiert wurde wegen seiner „Shocking Art“. Und nun ist es dieser gigantisch gemalte Kirschblütenzauber namens „Cherry Blossoms“ in der Fondation Cartier pour l’art contemporain in Paris.
Die erste große Soloausstellung „Cherry Blossoms“ des Künstlers in Frankreich ist zugleich so unerwartet, dass man diese sehr emotionalisierenden Bilder nicht mit seine Person in Zusammenhang gebracht hätte. Dieses Mal ist es nicht das aufgerissenen Maul eines Riesenhais, der beim Betrachten körperliche Reaktionen hervorruft, sondern es sind Kirschblütenbäume, welche die Betrachter fast andächtig werden lässt. Die Formate sind raumgreifend, denn es geht schließlich nicht um Kirschblütenzweige, sondern um ganze Bäume. Die Bilder ziehen den Betrachter magisch an und steht man nah davor, wird der pastöse Farbauftrag zu hunderten kleiner weißer oder roséfarbenen Punkten, wie die allerschönste Ausstellung einer französischen Pâtisserie. Diese Bilder haben eine besondere Magie, man möchte in sie hineinkriechen, der ein oder andere sogar hineinbeißen, den blauen Himmel hautnah erleben inmitten tausender Kirschblüten. Diese Ausstellung macht definitiv gute Laune!
Ein Fest der Farben im Chaos
„Cherry Blossoms“ ist eine wahre Premiere, denn es ist Damien Hirsts erste Museumausstellung in Frankreich. Die Kirschblüten-Reihe interpretiert mit spielerischer Ironie das traditionelle Thema der Landschaftsmalerei komplett neu. Hirst kombiniert dicke Pinselstriche und Elemente der gestischen Malerei mit Einflüssen des Impressionismus‘, Pointillismus‘ sowie Action-Paintings. Die monumentalen Leinwände, die ganz dicht von leuchtenden Farben bedeckt sind und den Betrachter in eine endlose Blumenlandschaft einhüllen, bewegen sich grazil zwischen Figuration und Abstraktion. Die Kirschblüten symbolisieren zugleich eine Subversion und Hommage an die große künstlerische Bewegung des späten neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts und sind ein integraler Bestandteil der bildlichen Erkundung, die Hirst schon lange praktiziert. In seinem Londoner Atelier beschrieb der Künstler diese Vorgehensweise als „diving into the paintings and completely blitzing them from one end to the other“.
Hirst sprach auch über die Arbeit an mehreren Leinwänden, zu denen er immer wieder zurückkehrte, selbst Monate nach der Fertigstellung. Nachdem er sich dieser Serie drei volle Jahre gewidmet hatte, beendete Damien Hirst die „Cherry Blossoms“-Reihe im November 2020:
„[The pandemic] has given me a lot more time to live with the paintings, and look at them, and make absolutely certain that everything’s finished.“
Die komplette Serie umfasst 107 Leinwände, die jeweils in großformatige Einzeltafeln, Diptychen, Triptychen, Quadriptychen und sogar in ein Hexaptychon unterteilt wurden.
Vom jungen britischen Künstler zu „Cherry Blossoms“
Nach seinem Studium in Leeds ging Damien Hirst 1986 an das Goldsmiths College in London und wurde schnell das neue Gesicht der „Young British Artists“, eine künstlerische Gruppe, die vor allem Lust am Experimentieren hatte und deren Kunst von so manchem als provokant empfunden wurde. Vor allem in den 1990er-Jahren dominierte die skurrile Gruppe die britische Kunstszene und Hirsts Serie „Natural History“ – in Formaldehyd gegossene Tiere – wurde bald zum Sinnbild seiner Arbeit. Die Malerei spielte jedoch schon immer eine bedeutende Rolle in Hirsts Werken:
„I’ve had a romance with painting all my life, even if I avoided it. As a young artist, you react to the context, your situation. In the 1980s, painting wasn’t really the way to go.“
Während seine früheren Werke vom Abstrakten Expressionismus inspiriert waren, deren Ansatz er als „paint how you feel“ bezeichnete, begann er 1986 eine Reihe, die als „Spot Paintings“ bekannt wurde. Farbige Punkte, die so wirken, als ob sie von einer Maschine gemalt wurden, verwischten sämtliche menschliche Spuren. Ursprünglich als fortlaufende Serie konzipiert, umfassen die „Spot Paintings“ heute über mehrere tausend Leinwände unterschiedlicher Größen und mit verschiedenen Titeln versehen.
Im Gegensatz zu den „Spot Paintings“ zeichnen sich die „Visual Candy“-Gemälde (1993 bis 1995), die ironischerweise nach einem vernichtenden Kommentar von einem bekannten Kunstkritiker benannt wurden, der sagte, die Gemälde sehen wie Muster für Vorhänge aus, durch dicke Farbflecken und überbordende Farbüberlagerungen aus. In jüngerer Zeit kreierte er die Serie „Color Space“ (2016), eine Variation der unendlichen Möglichkeiten der Farbe sowie die Serie „Veil Paintings“ (2018), bei der endlose Farbtupfer schimmern, die die gesamte Leinwand bedecken und diese förmlich zu zelebrieren scheinen. Diese Art der Kunst gipfelt in den „Cherry Blossoms“.
„The Cherry Blossoms are about beauty and life and death. They’re extreme – there’s something almost tacky about them. Like Jackson Pollock twisted by love. They’re decorative but taken from nature. They’re about desire and how we process the things around us and what we turn them into, but also about the insane visual transience of beauty – a tree in full crazy blossom against a clear sky. It’s been so good to make them, to be completely lost in color and in paint in my studio. They’re garish and messy and fragile and about me moving away from Minimalism and the idea of an imaginary mechanical painter and that’s so exciting for me.“ – Damien Hirst
Für die Ausstellung wurden außerdem mehrere Filme in Zusammenarbeit mit Damien Hirst erstellt. Ein Film, der über mehrere Monate gedreht wurde, ermöglicht es, in das Ambiente des an der Themse gelegenen Ateliers des Künstlers einzutauchen. Ein zweiter Film, in 360° gedreht, wurde von Damien Hirst moderiert, der ein weiteres seiner Studios den Zuschauen zeigt. Beide Filme sind, solange die Ausstellung läuft, auch online abrufbar.
Zudem wird die Fondation Cartier ein bemerkenswertes Buch mit allen 107 Gemälden der „Cherry Blossoms“-Reihe veröffentlichen, einschließlich einer Vielzahl von Details, die in Lebensgröße abgedruckt werden. Mit diesem Buch kommt der Leser einer wahren Ode an die Malerei noch ein Stücker näher, der sich Damien Hirst in den letzten drei Jahren verschrieben hat. Diverse Beiträge des Philosophen Emanuele Coccia, der Kunsthistoriker Philippe Costamagna, Michio Hayashi, Gilda Williams und des Schriftstellers Alberto Manguel analysieren in ihren Essays die „Cherry Blossoms“, während sie künstlerische, philosophische und literarische Resonanzen ziehen.
Fondation Cartier pour l’art contemporain
„Cherry Blossoms“
06. Juli 2021 – 2. Januar 2022
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